09.06.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Orte der Nächstenliebe

01.09.1996
Während religiöser Feste sind Tai­wans Tempel in ihrem Element. Symbolisches Geld regnet wie Konfetti auf die Zuschauer herab, und von himmlischen Wächtern angeführte Prozessionen ziehen begleitet von krachenden Feuerwerkskörpern durch die Straßen.

Taiwans Tempel sind weit mehr als nur Gebetshäuser. Schon lange sind sie in ihren Gemeinden auch Austragungsort aller möglichen Veranstaltungen und Aktivitäten, und immer mehr von ihnen suchen nach neuen Wegen, um der Gemeinschaft zu dienen.

Alle drei Schritte trifft man auf einen kleinen und alle fünf auf einen großen Tempel - so lautet ein alter taiwanesischer Spruch, und wer die Insel bereist, glaubt dies gern. Buddhistische und taoistische Tempel, winzige, Volksgöttern geweihte Schreine am Rande von Reisfeldern und große, mehrstöckige Stadttempel, in die jeden Tag unzählige Gläubige strömen, bedecken die ganze Insel. Offiziellen Zahlen zufolge bedienen 12 000 Tempel die spirituellen Bedürfnisse der Taiwanesen - eine eher konservative Schätzung.

Beim Stichwort Tempel baut sich im Geiste das Bild einer farbenfrohen und lauten Festprozession auf: Gläubige und Schaulustige drängen sich am Straßenrand, um riesige, schwingende Götterpuppen zu bewundern, die begleitet vom Krach der Trommeln und Feuerwerkskörper an ihnen vorbeiparadieren. Der Mondkalender enthält viele Feste. Zu den wichtigsten gehören das Laternenfest, der Geburtstag der Meeresgöttin Matsu und der Geistermonat, wenn sich die Tore der Unterwelt öffnen und ihre Bewohner für einen Monat in das Reich der Lebenden entlassen. An diesen Festtagen tobt in den Tempeln das Leben mit zahlreichen Zeremonien, Festgelagen für die Toten und die Lebenden und vielen anderen sozialen und religiösen Aktivitäten.

Aber Taiwans Tempel sind viel mehr als das. In den Gemeinden waren sie schon immer auch Treffpunkt Nummer eins, und ihre Anlagen sind ideal für Freizeitaktivitäten und Nachbarschaftstreffen aller Art geeignet. Überall kann man in Tempelnähe Gruppen beobachten, die hier die neuesten Nachrichten und den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft austauschen, Schach spielen, Tee trinken oder auch nur im Schatten ein kleines Nickerchen halten. Zu besonderen Gelegenheiten werden auf den Tempelplätzen Bühnen für Opernaufführungen und Puppenspiel aufgebaut. Die offiziell als historische Stätten ausgewiesenen Tempel ziehen das ganze Jahr über Touristen an. Und alle Tempel locken zahlreiche Geschäfte in ihre unmittelbare Umgebung.

An hohen religiösen Festtagen drängen sich die Gläubigen, um Speiseopfer darzubringen und zu beten.

Viele Taiwanesen gehen zwischendurch in einen Tempel, um kurz zu beten. Das schließt auch diejenigen ein, die weder einer bestimmten Glaubensrichtung anhängen noch regelmäßig in einem bestimmten Tempel beten. Manche bleiben nur kurz in der Tür stehen und verbeugen sich mit zusammengepreßten Händen in Richtung der Götterstatuen auf dem Hauptaltar. Andere gehen hinein, zünden Räucherstäbchen an und gehen langsam von Nische zu Nische, um die Götter bei persönlichen und familiären Problemen um Rat zu fragen. Folgende Szenen sind typisch: Ein Mann in mittleren Jahren hält hoch über seinem Kopf Opfergaben, und seine Lippen bewegen sich im stillen Gebet, vielleicht für Erfolg im Geschäft. Eine junge Frau steht mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Händen vor einem Weihrauchfaß - man kann sich gut vorstellen, daß sie darum betet, möglichst schnell den Mann ihres Lebens zu finden. Eine alte Frau schließt die Hände ihres Enkelsohnes um ein Bund Räucherstäbchen und verbeugt sich einige Male vor dem Bildnis von Kuanyin, der Göttin der Barmherzigkeit.

"Tempel spielen in der taiwanesischen Gesellschaft eine wichtige Rolle", sagt Liu Jui-e ( 劉瑞娥 ), Direktorin der Abteilung für soziale Dienste des Hsingtien-Tempels in Taipei. "Wenn die Chinesen Probleme haben, suchen die meisten von ihnen anstelle eines Psychiaters lieber einen Tempel auf. So gut wie jedermann, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Beruf, geht in die Tempel, nicht nur die Alten und Abergläubischen. Viele Tempelgänger sind jung, gebildet und wohlhabend. Der Wunsch nach Ruhm, Wohlstand und Gesundheit liegt in der menschlichen Natur, und es ist ebenso menschlich, sich ab und zu einsam und hilflos zu fühlen. Die Leute gehen in einen Tempel, um spirituelle Kraft zu schöpfen."

Die 23jährige Chen Hsu-hua (陳敍華) veranschaulicht diese Beobachtung. Sie arbeitet in einem Brautmodengeschäft in Taipei. Bis ihr Bruder in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt wurde, hatte sie noch nie einen Tempel von innen gesehen. "Damals fühlte ich mich schrecklich hilflos", erzählt sie. "Ein befreundeter Taxifahrer tröstete mich, indem er einen buddhistischen Sprechgesang murmelte. Das half, mein Herz wieder zu beruhigen. Heute mache ich oft in einem Tempel halt, um Hilfe bei meiner Arbeit zu erbitten. Wichtiger ist aber, daß ich mich in einem Tempel ruhig und entspannt fühle."

Diese imposante Statue des Bodhisattwas Ksitigarbha, dem Wächter am Tor zur Unterwelt mit dem Schlüssel in der Hand, thront über der Tempelanlage von Tienhsiang am westlichen Ausgang der Taroko-Schlucht in Osttaiwan.

Der 25jährige Autohändler Lin Shih-kai ( 林世楷 ) teilt diese Erfahrung. "Ich gehe oft während der Mittagspause in den Hsingtien-Tempel, um für meine Familie und meine Arbeit zu beten. Obwohl ich weder Buddhist noch Taoist bin, finde ich hier etwas Ruhe, und ich komme mit dem angenehmen Gefühl heraus, daß alles gutgehen wird." Ebensowenig ist es ungewöhnlich zu beobachten, wie Studenten gemeinsam in einen Tempel gehen. Chang Hsin-lan (張馨蘭) und Chiang Chia-chi (姜嘉琦) sind beide 19 Jahre alt und bereiten sich in einer Nachhilfeschule auf die Aufnahmeprüfung für das zweijährige Studium an einem Juniorcollege vor. Sie sind häufige Besucherinnen des Hsingtien-Tempels. "Meine Eltern sind sehr religiös", sagt Chang. "Einmal haben sie mich für ein shou ching (收驚) mitgenommen [ein Ritual, mit dem die Seele eines verängstigten Kindes beruhigt werden soll]. Seitdem gehe ich oft mit Freunden in den Tempel, wenn ich spirituelle Kraft nötig habe."

Bestimmte Anlässe verlangen nach einem Besuch im Tempel der Nachbarschaft. Wenn zum Beispiel der Sohn oder die Tochter kurz vor der Aufnahmeprüfung für die Oberschule oder die Universität steht, gehen Angehörige und manchmal sogar auch Lehrer in den Tempel und bitten für die Kandidaten um göttlichen Beistand. Die Gläubigen legen eine Kopie der Teilnahmebestätigung des Studenten in einen Korb vor dem Altar und teilen den Göttern den Namen und die Nummer des Kandidaten mit. Dann beten sie um Erfolg. Solche Szenen sind im Hochsommer während der Prüfungswochen an der Tagesordnung.

In gewissem Sinne ist Religion auch immer erfolgbezogen. Viele Tempelgänger wollen ganz sichergehen und verlangen eine konkrete Wirkung ihrer Gebete. Für Götter, die Antwort geben, werden mehr Räucherstäbchen angezündet. Solche hingegen, von denen nicht die erwartete Hilfe kommt, werden ignoriert. Im allgemeinen beherbergt ein Tempel mehrere Götter. Im Lungshan-Tempel in Taipei sind es derer sechzig, darunter die Göttin der Barmherzigkeit Kuanyin und die Meeresgöttin Matsu. Aber auch zahlreiche kleinere Götterfiguren sind hier vertreten: der Gott der Weitsichtigkeit, der Gott mit Ohren, die meilenweit hören können, der Sonnengott, die Mondgöttin, die Schicksalsgöttin, die Göttin der Geburt, die Fruchtbarkeitsgöttin, der Berggott und viele andere. Je nach Bedarf wählen die Tempelgänger eine Gottheit aus.

Einige Tempel sind nicht nur Orte des Gebets oder des religiösen Trostes, sondern halten auch Talismane und Beschwörungsformeln bereit, die eine Möglichkeit zur Problemlösung für die Gläubigen bieten. Zum Beispiel bauten Chen Kuei-cheng und seine Frau vor zwanzig Jahren den taoistischen Tempel Wu Tang Shan in Shulin im Kreis Taipei. Die Eheleute glauben, daß sie über besondere Fähigkeiten verfügen, wie etwa ein Talent für Geomantik und die Begabung, in spirituelle Not geratene Seelen zu beruhigen. Sie behaupten des weiteren von sich, Katastrophen abwenden und das Schicksal beeinflussen zu können. Außerdem stellen sie Gedenktafeln mit den Namen Verstorbener zur Verfügung.

Durch seine Lage oben auf dem vierstöckigen Apartment der Chens und mit seinen ausgestopften Tieren und vielen Fotos des Ehepaars, auf denen es Beschwörungsformeln für seine Anhänger rezitiert, liefert der Tempel ein eher merkwürdiges Erscheinungsbild. Vor dem Eingang ist ein Schild mit der Aufschrift "Betreten verboten" angebracht, denn der Tempel ist im Gegensatz zu den meisten anderen für die allgemeine Öffentlichkeit nicht zugänglich. Laut Chen hat er auf ganz Taiwan 150 000 Anhänger, darunter einige Abgeordnete und hochrangige Beamte.

Der Lungshan-Tempel in Taipei ist eine der Touristenattraktionen der Hauptstadt. Gleich nebenan wird auf einem berühmten Nachtmarkt für das leibliche Wohl gesorgt.

Im allgemeinen werden große Tempel mit privaten Spendengeldern gebaut und instandgehalten. Ein typisches Beispiel ist der Lungshan-Tempel in Taipei. Jeder Gläubige, der Geld stiftet, bekommt ein kuang ming teng (光明燈), wörtlich übersetzt ein leuchtendes Licht. Dabei handelt es sich um eine kleine Kerze oder elektrische Lampe, die hinter Glas in eine Säule neben einem Altar eingelassen wird. Dieses Licht soll dem Gönner Frieden bringen. Aber nicht alle großen Tempel nehmen Spenden an, zumindest nicht jederzeit. "Die Gläubigen dürfen nur während der jährlichen Hauptversammlung Geld für den Hsingtien-Tempel stiften", sagt Liu Jui-e. "Das liegt an unseren sechs Prinzipien: keine Kollektenboxen, kein symbolisches Papiergeld, keine Viehopfer, keine folkloristischen Darbietungen, keine Goldgeschenke zum Dank an die Götter und keine Spenden von der breiten Öffentlichkeit." Diese Prinzipien wurden vor einem halben Jahrhundert bei der Gründung des Tempels festgeschrieben, als die Bevölkerung noch vergleichsweise arm war. Die Tempelgründer waren der Meinung, jeder sollte ungeachtet seines Besitzes und gesellschaftlichen Status von den Göttern gesegnet werden.

Kleinere Tempel werden mit Spenden aus der Nachbarschaft gebaut und erhalten. Ein solcher Gemeindetempel ist der Yuchu-Tempel in dem Ort Lukang in Zentraltaiwan. Hier ist Tien Tu Yuan Shuai beheimatet, eine bei darstellenden Künstlern beliebte Gottheit, die oft um eine erfolgreiche Aufführung gebeten wird. Unabhängig von ihrer Größe werden die meisten Tempel von einem Komitee oder einem von der Gemeinde gewählten Vorstand verwaltet. Shih Chao-chuan (施肇川) gehört dem Verwaltungsausschuß von Yuchu an. "Zu uns kommen fast nur Leute aus der Nachbarschaft", berichtet er. "Wir finanzieren den Tempel selbst, und er ist das spirituelle Symbol unserer Gemeinde."


Die Interessen und Bedürfnisse der Tempelgänger haben sich in den letzten Jahren sehr verändert. Einige der größeren Tempel haben auf diesen Wandel reagiert, indem sie über ihre Funktion als Gemeindezentren und Gotteshäuser hinausgingen. Sie haben ihre Aktivitäten um Wohltätigkeitsprogramme, Sozialarbeit und die Kulturförderung auf Gemeindeebene erweitert.

Eines der aktivsten buddhistischen Zentren auf der Insel ist der Lungshan-Tempel in Taipei. Gegründet wurde er 1740 und gehört zu den ältesten und größten Tempeln Taiwans. Seine Wurzeln reichen über die Taiwanstraße hinweg bis in die südostchinesische Provinz Fukien. Am Laternenfest drängen sich in diesem herrlichen Bauwerk in jedem Jahr unzählige Besucher, um eines der bezauberndsten Feste der religiösen Tradition Chinas mitzuerleben. Seit kurzem nimmt die Tempelleitung jedoch auch an vielen sozialen Aktivitäten teil. "Über sein Dasein als Tempel im traditionellen Sinne hinaus dient Lungshan jetzt auch als Tourismuszentrum und Wohltätigkeitsstiftung und legt einen weiteren Schwerpunkt auf seine Sozialarbeit", sagt Chang Chun-hung (張俊宏), geschäftsführender Sekretär des Lungshan-Tempels. "Fast alle größeren Tempel auf Taiwan folgen diesem Trend." Heute offeriert Lungshan für alle interessierten Bürger Kurse in Kalligraphie, Blumenarrangement und Japanisch.

Götterfiguren schreiten durch das Haupttor des Tienhou-Tempels in Lukang. An hohen religiösen Festtagen des Mondkalenders finden hier aufwendige Feierlichkeiten statt.

Der Tempel spendet darüber hinaus in Form von Stipendien und anderen Finanzhilfen beträchtliche Summen an Oberschulen und Colleges. In jedem Jahr unterstützt er mit rund 2,2 Millionen US$ verschiedene Wohltätigkeitsprogramme für Arme und Kranke. Diese Großzügigkeit zieht immer mehr ehrenamtliche Mitarbeiter an, die bei den Aktivitäten des Tempels mitwirken wollen. Viele Hausfrauen zwischen fünfzig und siebzig aus der näheren Umgebung kommen regelmäßig in den Tempel, um dort alle möglichen Arbeiten zu verrichten. Mehrere Mittel- und Oberschullehrer stehen auf Abruf als Berater bei persönlichen und familiären Problemen bereit. Das Verwaltungskomitee plant den Bau eines weiteren Zentrums im Taipeier Vorort Panchiao. Ein Seniorenzentrum und ein Ossarium sollen ebenfalls entstehen.

Der Hsingtien-Tempel in Taipei möchte sein Angebot für die umliegenden Gemeinden ebenfalls erweitern. Dieser taoistische Tempel ist dem legendären Helden Kuan Kung geweiht. Jeden Tag kommen zahllose Gläubige, von denen die meisten für geschäftlichen Erfolg beten. Kurz vor großen Wahlen ist es ein absolutes Muß für die Aspiranten auf ein hohes politisches Amt, dem Hsingtien-Tempel einen Besuch abzustatten. Der Tempel richtete vor 19 Jahren die erste Gemeindebibliothek Taiwans ein, die heute zwei Außenstellen, einen Lesesaal in Taipei und die Hauptbibliothek mit 150 000 Bänden umfaßt. Hier stehen unter anderem auch viele Neuerscheinungen und sogar eine Auswahl an Comicbüchern, um die Interessen von so vielen Lesern wie möglich zu bedienen. Für Senioren steht ein Extrabereich mit Vergrößerungsgläsern und modernsten Lesehilfen zur Verfügung.

Unter dem Motto "Bücher für alle" startete die Tempelbibliothek kürzlich eine Bücherverteilungsaktion an Taiwans Landbevölkerung. Gestiftet hatte die Bände das Regierungsinformationsamt. Außerdem sendet sie zwei Radiosendungen, bei denen die Hörer anrufen und über gerade gelesene Bücher diskutieren können. Dies findet alles zusätzlich zu dem regulären Kurs- und Beratungsangebot für alle Altersgruppen und Interessen statt.

Seit langem engagiert man sich im Hsingtien-Tempel auch für medizinische Hilfe und andere Wohltätigkeitsprogramme. Für seine Sozialarbeit in zehn privaten und öffentlichen Krankenhäusern stellt er derzeit jährlich 111 000 US$ zur Verfügung. In Sanhsia im Kreis Taipei hat der Tempel ebenfalls mit dem Bau eines 17stöckigen Krankenhauses mit 300 Betten begonnen, das 1997 fertiggestellt werden soll. Hsingtien läßt darüber hinaus armen Familien und Opfern von Naturkatastrophen wie Taifunen und Überschwemmungen beträchtliche finanzielle Unterstützung zukommen. Erst jüngst spendete der Tempel große Mengen an Insektiziden zur Bekämpfung einer Epidemie des durch Moskitos übertragenen Denguefiebers in der zentraltaiwanesischen Stadt Nantou.

Fokuangshan ist der größte buddhistische Tempel auf der Insel. Ihm steht der ehrwürdige Hsing Yun (星雲大師) vor. Bekannt ist dieser Tempel vor allem für seine Bemühungen um die Verbreitung der Lehren des Buddhismus, des Dharma. Darüber hinaus widmet man sich hier immer stärker der Bildung und wohltätigen Aktionen. Die höhere buddhistische Bildung bekam hier großen Aufwind, als der Tempel 1967 das Chung-hua-Institut für Buddhistische Studien ins Leben rief. Die Absolventen des Instituts studieren entweder im Ausland weiter oder finden in verschiedenen buddhistischen Kultur-, Verlags- und Fortbildungsunternehmen Arbeit.

Unter anderem unterhält der Tempel den Verlag Fokuang Publishing House, der seit seiner Gründung 1959 rund 500 Titel, Kassetten und Videobänder veröffentlicht hat. Neben eher ernsten Werken wie Sutrasammlungen und wissenschaftlichen Abhandlungen über Buddhismus erscheint hier auch Belletristik, darunter Prosa, Lyrik und Romane, mit buddhistischen Themen.

Nicht jeder größere Tempel gibt Wohltätigkeits- und Bildungsprogrammen solchen Vorrang, um den Ansprüchen der heutigen Gesellschaft in Taiwan gerecht zu werden. Der Tienhou-Tempel in Lukang ist der größte der Meeresgöttin Matsu - die besonders von Fischern verehrt wird - geweihte Tempel auf der Insel. Jedes Jahr zieht er zahllose Gläubige aus ganz Taiwan an. Lukang ist für seine Atmosphäre und traditionellen Aktivitäten bekannt, und der Tempel bemüht sich sehr um die Förderung der Kultur an der Basis der Gesellschaft.

Der Tempelkomplex Fokuangshan in Südtaiwan wird von dieser 36 Meter hohen Statue des Buddhas Amitabha überragt. Der Weg dorthin ist von kleineren Ebenbildern dieser Figur gesäumt.

"Tienhou ist das religiöse Zentrum des Städtchens Lukang, das noch einige andere historische Sehenswürdigkeiten zu bieten hat", betont Cheng Cheng-che (鄭正哲), Mitglied des Tienhou-Verwaltungskomitees. "In diesem Tempel halten wir es für wichtiger, die Kultur an der Wurzel der Gesellschaft zu fördern, als Bibliotheken und Krankenhäuser zu bauen, besonders da es in Lukang bereits mehrere gute gibt."


Trotz der vielen lobenswerten Errungenschaften wird über eine Minderheit unter den zahlreichen Tempeln gelegentlich auch Kritik laut. Zum Beispiel kommen vielen Bürgern die teilweise sehr engen Beziehungen zwischen gewissen Tempeln und politischen Interessengruppen sehr fragwürdig vor. "Im Lungshan-Tempel sind keine politischen Veranstaltungen erlaubt", bekräftigt Chang Chun-hung. "Religion bedeutet für uns etwas Langfristiges, während Politik kurzlebig ist. Also bestehen wir darauf, die zwei Dinge voneinander zu trennen." Liu Jui-e vom Hsingtien-Tempel schließt sich diesem Standpunkt an. "Wir haben schon viele Spenden von Politikern abgewiesen", berichtet sie. "Auch wenn das bedeuten könnte, daß wir damit mächtige Leute beleidigen, halten wir daran fest, daß Hsingtien mit keiner politischen Partei etwas zu tun haben sollte."

Mit dieser Aussage rückt sie ein weiteres Problem in den Vordergrund: "Zur Zeit besteht Hsingtien aus drei separaten Organisationen - dem Tempel, den Kultur- und Bildungsstiftungen und den Krankenhäusern -, und für jede brauchen wir Fachkräfte. Die sind aber schwer zu finden, weil wir nicht genug bezahlen können." Liu selbst ist als Sozialarbeiterin ausgebildet und hat bereits reichlich Berufserfahrung sammeln können, bevor sie zum Hsingtien-Tempel kam. "Obwohl ich weniger als vorher verdiene", sagt sie, "gibt mir die Arbeit hier ein Gefühl von Frieden und Glück."

In der modernen taiwanesischen Gesellschaft mögen die Tempel zwar eine vielseitigere Rolle spielen als je zuvor, aber ihre grundsätzlichen Ziele sind die gleichen geblieben. "Sie existieren, um die traditionellen chinesischen Tugenden zu verbreiten, die Herzen der Menschen zu reinigen und für die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft zu arbeiten", erklärt Liu. "Ein Tempel mag vielleicht nur über begrenzte Mittel verfügen, das stimmt. Aber die Möglichkeiten dessen, was er damit anfangen kann, sind unbegrenzt."

(Deutsch von Christiane Gesell)

Meistgelesen

Aktuell